Dienstag, 29. Juli 2008

Abseits

Piemont (Süd) – oder genauer: Langhe Meridionali. Was bedeutet Langhe? Vermutlich etwas zwischen ‚Hügel’, ‚Hang’ und ‚Terrasse’, es ist die Mehrzahl von Langa. In meinem ärmlichen Taschendictionario habe ich den Begriff nicht gefunden.

Unter ‚http://www.emmeti.it/Welcome/Piemonte/Langhe/index.de.html’ lese ich später:

„Tiefebene im Norden und Westen, Hügel im Osten und Berge im Süden. Dies sind die Koordinaten zum Verständnis der Lage der Langhe, einer immensen Ausdehnung von sanften Hängen, die in der Mitte vom Fluss Tanaro geteilt werden, der so zu einer natürlichen Grenze zwischen diesem Gebiet und dem Roero auf der linken Flussseite wird. Es gilt als sicher, dass der Begriff Langhe keltischen Ursprungs ist und soviel wie "Erdzungen" (lingue di terra) bedeutet. Der Bezug auf die Erdfurchen, die durch Erosionen entstanden sind, welche wiederum durch die sedimentäre Erde bedingt sind, ist offensichtlich.“

Das Haus gleicht einer verwunschenen Klause und liegt in den hügeligen Wäldern nahe dem Fahrsträsschen. Ich kann auf einer hier gekauften Wanderkarte 1:50'000 schauen, oder auf einem Plankroki, das der Eigentümer sorgfältig gezeichnet hat, und auf beidem finde ich das Haus zu Fuss oder mit dem Wagen ohne Schwierigkeiten. Will ich aber die Lage mit der weiteren Umgebung in Übereinstimmung bringen, verlässt mich meine kartographische Erfahrung. Entweder ist das Plankroki in Teilen seitenverkehrt gezeichnet, oder das Netz der Wege auf der Karte ist nicht aktuell. Die Karte jedoch zeigt keine Jahreszahl der Herausgabe. Der einzige zuverlässige Orientierungspunkt, eine Umsetzeranlage der RAI, hat der Eigentümer gezeichnet, aber auf der Landkarte ist sie nicht eingetragen. Deshalb weiss ich noch immer nicht mit letzter Sicherheit, wo genau ich mich befinde, obschon ich schon seit gestern hier bin.

Welche verschlungenen abenteuerlichen Fahrwege führt uns unsere Gastgeberin in verwegener Kurventechnik zwischen Cortemilia, Perletto und den zahlreichen, oft recht abgelegen verstreuten Case in den unübersichtlichen Bosci?

Verwirrend.

„Abseits“ heisst ein stimmungsvolles Gedicht von Theodor Storm. Es lässt die sonnen- und hitzegewobene Mittagszeit vor einer einsamen Kate in der Heide hautnah erleben. Wer es liest, spürt die Wärme, lauscht dem Summen und Brummen der Bienen und anderer Insekten, dem leisen Flüstern der Heidegräser. Schade, dass ich das Gedicht nicht bei mir habe! Auch wenn ich hier rund zweitausend Kilometer südlicher bin und keine Ebene, sondern bewaldete Kuppen (Bosci) und weinbergartige Haselnusshaine vor mir habe, fühle ich mich lebhaft an die Stimmung des Gedichts des Husumers Storm erinnert und an dessen Schlusszeilen: „Kein Klang der aufgeregten Zeit / Drang noch in diese Einsamkeit.“

Hier ist es nun, „Abseits“, von Theodor Storm:

„Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.

Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelheide Glöckchen,
Die Vögel schwirren aus dem Kraut –
Die Luft ist voller Lerchenlaut.

Ein halbverfallen niedrig Haus
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
Behaglich blinzelnd nach den Bienen;
Sein Junge auf dem Stein davor
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.

Kaum zitternd durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seine Honigernten.
– Kein Klang der aufgeregten Zeit
Drang noch in diese Einsamkeit.“

Die vom Nachmittags- und Abendwind zu teils heftigem Rauschen bewegten Äste der Feigenbäume nicken mir beifällig zu. Der Wind kühlt erst abends, vor Sonnenuntergang. Am Nachmittag mildert er lediglich die Hitze so weit, dass sie nicht bleiern, einschläfernd wirkt, sondern lebendig, anregend bleibt.

Über die Stille hat Antoine de Saint-Éxupéry eine Hymne geschrieben (in der „Citadelle“), ich will ihn nicht nachzuahmen versuchen.

„Die Stille ist für manche nichts weiter als der Lärm im eigenen Kopf“, fällt mir, etwas giftelnd, ein. Doch hier stimmt das nicht, hier lebt sie ihr ganz eigenes Leben. Selbst das unhörbare Flattern der grossen, grauweiss gezeichneten Sommervögel scheint zur Partitur dieser nachmittäglichen Stille zu gehören, in welche die Wespen, einige Käfer und eine bedrohlich brummend schwebende Hornisse einstimmen. Dann und wann fällt eine Feige, fällt ein wurmstichiger Apfel von den Bäumen. Unmittelbar aufgeschreckt, galoppieren die beiden bellenden Hunde aufgeregt irgendwo hin, um „ein Geräusch zu sehen, das sie gehört haben“ (wie Zettel als Priamus in der Rüpelkomödie von Shakespeares Sommernachtstraum), traben sanftmütig wieder zurück, legen sich wieder hin und dösen im Halbschatten weiter. Ganz, ganz selten brummt ein Auto – jetzt hupt eines sogar. Auch die Arbeitsmaschinen beginnen nach der Siesta bis Sonnenuntergang in der Ferne wieder zu rattern. Abends, bis lange nach dem Einnachten, schallen aus allen Richtungen ferne Schüsse. Sie stammen aus eigens dazu konstruierten Schreckschussanlagen und sollen die Wildschweine erschrecken und verscheuchen, die es auf die Maisfelder abgesehen haben und sie nachhaltig zu verwüsten drohen. Die Maisfelder sind zusätzlich mit elektrischen Zäunen auf ungefähr 30 bis 40 Zentimetern Höhe ab Boden gesichert. Löst wohl ein Kontakt mit ihnen die Schussanlage aus?