Mittwoch, 16. Januar 2008

Sinnieren

Das französische Wort für „sinnieren“ gefällt mir eigentlich besser: „songer“. Für mich enthält es etwas von „träumen“ – warum, weiss ich nicht, heisst doch träumen auf Französisch rêver. Aber da ich kein „Französischmeister“ bin, könnte es ja sein, dass ich gar nicht weiss, dass es ein Synonym gibt, welches mit songer zu tun haben könnte.

War das jetzt schon sinnieren? Natürlich. So geht es mir diese Tage: vieles blitzt oder schleicht durch meine Gedanken, ziellos, ohne bestimmten Anlass, einfach so. Ich könnte Seiten auf Seiten füllen, hätte ich nur Zeit, den Stift in die Hand zu nehmen und mich vor ein Blatt zu setzen.

Neben mir tönt die „Altrhapsodie“ von Johannes Brahms. Meister Johannes, nenne ich ihn immer wieder.

„Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
seinem Ohre vernehmlich,
so erquicke sein Herz!.“

singt die Altistin zum Schluss nicht des Gedichts, aber des Textes, den Brahms vertont hat. Die Worte stammen aus „Harzreise im Winter“, ein geheimnisvoll ergreifendes Gedicht, entstanden, als der spätere Bergbauminister des Herzogs von Weimar, J. W. v. Goethe, im November 1777 den Harz auf einer Inspektionstour bereiste und nebenbei die Gelegenheit wahrnahm, einen Bewunderer aus jener Gegend, der ihm Briefe geschrieben hatte – ein junger Dichter, wenn ich mich noch recht erinnere – inkognito zu besuchen. Goethe berichtet davon ausführlich in seinen „Lebensgeschichtlichen Bekenntnissen“ unter dem Titel „Harzreise“. Der Anfang des Gedichts, das unter dem Eindruck sowohl der Landschaft als auch der Begegnung mit dem wohl etwas seltsamen Manne entstand – der Ode, wie Goethe seine „Harzreise im Winter“ bezeichnete – der Anfang lautet so:

„Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied“.

Da sind wir mitten im Sinnieren! – Einige Strophen weiter im Gedicht stehen die Verse, mit denen Brahms seine Altrhapsodie beginnt:

„Aber abseits, wer ist’s?
Im Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn“.

Brahms übernimmt diese und die beiden folgenden Strophen in seine Komposition. Die letzte steht schon oben, und die mittlere füge ich hier noch ein, weil sie auch zum Sinnieren einlädt:

„Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhass
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eigenen Wert
In ungnügender Selbstsucht.“

Und dann folgt die versöhnlich, ja liebevoll klingende Schlussstrophe von Brahms’ Altrhapsodie, ich nenne sie nochmals, weil ich sie so sehr liebe, diesmal mit den vier Schlusszeilen, die der Komponist aus guten Gründen dem Chor zuweist:

„Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
seinem Ohre vernehmlich,
so erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste.“

Nein, ich will weder eine Paraphrase über das Goethe-Gedicht schreiben, und schon gar nicht eine Interpretation. Nur, so sinniere ich, diese Musik von Brahms zu diesen Worten von Goethe – sie geben meine Stimmung von „Songeries“ recht gut wieder.